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Deutschlands Geschichte bei den großen Turnieren


Früher oder später muss ich dieses Beobachten und Erleben ohnehin einmal loswerden. Warum also nicht jetzt und hier?


Dabei ist diese Betrachtung hier, wie ich hoffen darf, eine sehr individuelle und fördert auf diese Art Erkenntnisse zutage, die so noch nicht gewonnen wurden. Es geht dabei auch eine ganze Menge um Glück und Pech. Es ist sowohl eine historische Betrachtung als auch eine philosophische, weiterhin aber eine biographische. Ich lasse nichts aus und füge nichts hinzu. Dabei möchte ich nur aus der Erinnerung plaudern. Falls sich dabei Verfälschungen ergeben, bitte ich, großzügig darüber hinwegzusehen. Die einzige Alternative, richtige Ergebnisse nachzulesen könnte dazu führen, dass die Authentizität leidet. Man schreibt etwas hin, weil man es nachgelesen hat und nicht, weil man sich daran erinnert. Das ist hier nicht erwünscht. Es soll ein Erlebnisbericht sein, sagen wir, ein Erlebniskettenbericht...


1)    Die Fußball Weltmeisterschaft 1966


Ich war bei diesem Turnier 7 Jahre alt. Und es war mit Sicherheit prägend für meinen weiteren Lebenslauf. Diese Faszination, die allein schon von dem Begriff „Weltmeisterschaft“ ausgelöst wurde! Spieler aus allen Ländern der Welt, aber dazu noch die besten. Dennoch habe ich mich am Fußballvirus bereits ein paar Wochen vorher infiziert. 


München 1860 war Deutscher Meister durch einen 1. Platz in der Bundesliga geworden. Ich hatte mit meinem Vater in der Sportschau das entscheidende Spiel Borussia Dortmund gegen München 60 verfolgt. Er wollte mir weismachen, dass der Sieger zwar Deutscher Meister wäre, es aber dennoch kein Endspiel wäre. Und obwohl 1860 das Spiel mit 2:0 gewann und tatsächlich die Meisterschaft eingefahren hatte, bin ich heute geneigt, meinem Vater zu glauben...


Danach hatte ich das große Vergnügen, das Endspiel um den Europapokal der Pokalsieger mitzuverfolgen, welches Borussia Dortmund tatsächlich in der Verlängerung durch das legendäre Tor von Stan Libuda aus 40 Metern mit 2:1 gewann. Als ich meinem Vater viele Jahre später genau dieses Spiel auf Video mitbrachte und wir es gemeinsam anschauten, mussten wir feststellen, dass es dort nur einen Sieger hätte geben sollen: FC Liverpool. Sie waren die gesamte Spielzeit über die bessere Mannschaft. Der Sieg der Dortmunder war überaus glücklich. Nur: Als Deutscher gewöhnt man sich recht bald daran, dass man sich darauf auch verlassen kann, wie mir scheint...


Dann habe ich das Buch von dem legendären Torwart der Münchener Löwen, Petar Radenkovic, geschenkt bekommen. „Bin i Radi, bin i König.“ Er hat das sogar als Lied vorgetragen. Und Sepp Maier, den Torhüter der allmählich übermächtig werdenden lokalen Konkurrenz des FC Bayern München, die in diesem Jahr 1966 als Aufsteiger hinter 60 und Dortmund einen sensationellen 3. Platz belegt hatten, eines Tages zu dem Konter eingeladen: „Bin i Radi, bin i Depp. König ist der Maier Sepp.“ Ich wollte jedenfalls Torwart werden und auch solche Paraden und solche Ausflüge wie Radi machen, welcher, laut diesem Buch damals, in der Saison über 140 davon gemacht haben soll, bei denen er seinen Strafraum verließ. Er war eigentlich Stürmer im damals noch traditionell schwarzen Schafspelz der Torhüter, wenn man so will.


Das WM-Turnier begann wie üblich im Sommer. Und wie immer hatten wir eine Sommerreise geplant. Es sollte wieder nach Dänemark, Schweden Norwegen gehen. Die Sommer im Süden waren einfach zu heiß. Nun gut, als Kind freut man sich auf eine solche Reise, das ist klar. Dennoch gab es schon kleinere Bedenken meinerseits. So viel Fußball und nicht schauen können?


Das Eröffnungsspiel lautete England – Uruguay. England war Ausrichter. Noch nie zuvor hatte ich mit solcher Spannung ein Spiel erwartet. Und obwohl die Eröffnungsfeierlichkeiten damals noch recht schlicht abgehalten wurden, wurde ich allmählich unruhig. Wann geht es nun endlich los? Dann kam auch noch eine ewige Aufwärmphase, wo ich zwar all die großen Kicker sehen durfte, aber sie spielten sich den Ball nur so zum Spaß ein wenig zu. Das hätte ich auch noch hinbekommen. Und das Torwart-Aufwärmen sah so aus: Er bekam bestimmt 50 Bälle aus nächster Nähe, aber allesamt direkt auf ihn gezielt, noch dazu in fangsicherer Höhe, zugespielt. Ich wollte richtige Flugparaden sehen, wo der Ball aus dem Winkel gekratzt wird. So wie Radi eben.


Endlich ging das Spiel los. Ich erinnere mich noch gut, aber dennoch schemenhaft. Das liegt aber nicht an meinem mangelhaften Erinnerungsvermögen, sondern vielmehr daran, dass es nur schwarz-weiße Bilder mit der ständig zu justierenden Zimmerantenne auf einem müden alten Fernseher eingefangen gab. Im Spiel  passierte nichts. Es war total langweilig. Nicht mal ein Torschuss, eine Parade. Das Spiel endete mit 0:0. Gut, dachte ich mir, Deutschland spielt ja auch noch nicht. Die werden denen schon zeigen...


Am nächsten Tag die Abfahrt. Da wir Verwandte in Hamburg und auch eher noch ein schmales Budget hatten, ging die Fahrt dort vorbei, inklusive zwei oder drei Übernachtungen, was für uns Kinder (drei je Familie) immer ein besonderes Highlight war. Schlafen auf dem Dachboden und von dort oben Blick auf die Elbe mit den ständig passierenden riesigen Dampfern, welche am Willkomm Höft hörbar (sie wohnten in Wedel) begrüßt wurden. Ein Genuss für Seemänner wie uns.


Am späten Nachmittag dann das erste Spiel der Deutschen. Der Gegner war die Schweiz, eher ein Aufbaugegner. Mein Vater erkannte meine Leidenschaft und machte sich mit mir auf den Weg, um einen bei der Familie noch nicht vorhandenen Fernseher in einer Kneipe zu finden. Bestens kann ich mich noch erinnern, wie ich mich als Kind gewundert habe, warum wir in Hamburg eine Kneipe fanden, in der dab, also Bier der Dortmunder Aktienbrauerei verkauft wurde? Damit musste und konnte ich aber gut leben. Bier schmeckte eh nicht...


Wir fanden einen guten Platz und durften erstmals die Deutsche Mannschaft bewundern. Beste Erinnerung habe ich noch an Helmut Haller und Siggi Held in dem Spiel. Waren sie die ersten beiden Torschützen? Jedenfalls hat Helmut Haller den der deutschen Mannschaft zugesprochenen Elfmeter irregulär lange verzögert und gewartet, bis der Schweizer Torhüter Elsner sich für eine Ecke entschied und den Ball dann locker in die andere geschoben. Das Spiel endete 5:0. Irgendwie ging mir das beinahe zu einfach. Deutschland als Weltmacht? Natürlich befragte ich meinen Vater auch nach dem legendären Triumph der Deutschen 12 Jahre zuvor und wie er ihn erlebt hatte.


Wir konnten dort noch ein paar Tage später das unsägliche Spiel Deutschland – Argentinien verfolgen. was, durch die rosarote Brille der Deutschen betrachtet aufgrund der Unfairness des Gegners auch nur einen Sieger verdient hätte. Der Platzverweis von Rattin ist mir so gut in Erinnerung wie die späteren Spielverzögerungen. Aber „uns Uwe“, Uwe Seeler, war auch wirklich ein feiner Sportsmann. Man hatte gute Gründe, auch so den Deutschen „viel Glück“ zu wünschen. Das Spiel endete mit einem 0:0.


Das letzte Gruppenspiel gegen Spanien stand an. Wir befanden uns auf einem Zeltplatz, nach meiner Erinnerung in Bergen, Norwegen. Irgendwo in einem Nachbarzelt gab es etwas so exklusives wie ein Radio. Alle paar Minuten ging ich hin, um zumindest den Spielstand zu erfragen. Deutschland lag früh zurück. Das könnte das Aus bedeuten! Aber alsbald erzielte Lothar Emmerich das sagenhafte Tor aus spitzem Winkel, als der den Ball unter die Latte hämmerte. Und als Uwe Seeler dann in der 81. Minute das 2:1 erzielte, stand dem Weiterkommen, sogar als Gruppensieger, nichts mehr im Wege.


Ein Schockereignis traf mich noch wirklich tief und ich wusste zu der Zeit noch nichts von dem berühmten „Bild-Zeitungs Niveau“. Wir erhielten im Ausland die Bild-Zeitung, wenn auch mit einem Tag Verzögerung. Und man musste nicht einmal aufschlagen, um die folgenden Horrormeldung zu lesen. Man muss dazu noch wissen, dass es eine wirkliche Legende gab, die in aller Munde war und sogar den berühmten Sammelalben damals eine Extra Mannschaft einbrachte. Den FC Santos mit dem göttlichen Pele. Hier die Meldung: „PELE IST TOT“.


Ich war geschockt, als ich das las. Er wurde auf dem Bild auch vom Platz getragen. Mein Vater beruhigte mich sofort und meinte, er wäre nur verletzt worden. Aber so schwer, dass er nicht mehr weiter spielen konnte. Dadurch hat Brasilien, bei der damals noch angewandten Regel, dass keine Spieler ausgewechselt werden durften, das zweite und dritte Gruppenspiel mit 1:3 verloren (Portugal und Ungarn) und war ausgeschieden. Der amtierende Weltmeister! Über die Größe der von mir damals empfundenen Ungerechtigkeit (ich sah in spätern Bildern sogar den schwer verletzten Pele noch in dem Spiel über den Platz humpeln) muss ich nicht weiter sprechen. Gigantisch!


Deutschland war weiter, Brasilien raus. Sollte das etwa eine besondere Bedeutung für die Zukunft haben? Immer wieder Deutschland, Deutschland, über alles. Auch über Brasilien. Und wer wagt schon zu behaupten, dass Deutschland damals besser war als Brasilien? Es war nur eine Ungerechtigkeit. Zur Freude der Deutschen, zum Schaden der Brasilianer.


Das Viertelfinale stand an. Wir waren irgendwo in Dänemark oder Schweden denke ich. Man bekam keinerlei aktuelle Informationen. Wie mein Vater das als bekennender Fußballfan ausgehalten hat? Für mich bis heute ein Rätsel. Wir erfuhren nur, dass Deutschland Uruguay mit 4:0 besiegt hatte. Ein scheinbar einfacher Sieg, zumal die Urus zwei Spieler durch Platzverweis verloren. Wie ich viel später erfuhr, war auch dieser Sieg wesentlich weniger eindeutig, als es das Ergebnis vermuten lässt.


Übertrieben auffällig an den Viertelfinalspielen war nicht einmal die Paarung Deutschland – Uruguay, höchstens hierzulande. Das besondere Spiel war die Paarung Portugal – Nordkorea. Portugal hatte einen zu der Zeit überragenden Eusebio in seinen Reihen, welcher auch Torschützenkönig bei dieser WM wurde. Nun, wie immer man gedacht haben mag über einen Sieg von Nordkorea gegen Italien und die Größe dieser Sensation – es war ein 1:0, was bei den torarmen Spielen der Italiener „schon mal passieren kann“. Aber eine 3:0 Führung in der ersten Halbzeit gegen Portugal – das wäre sicher ins Reich der Fabel verwiesen worden, falls sich nicht die Realität zu Wort gemeldet hätte. Dass die Portugiesen dann aber dieses Spiel noch drehen konnten und mit 5:3 ins Halbfinale gelangten, erscheint beinahe noch unwahrscheinlicher, oder nimmt man das dann einfach so hin? Italien braucht gegen Nordkorea einen Punkt, dafür ein Tor nach Rückstand, zum Weiterkommen und schafft das nicht. Portugal braucht in etwas mehr als einer Halbzeit mindestens vier Tore gegen den gleichen Gegner. Es war der Verdienst von Eusebio, der vor allem dank seiner Tore in diesem Spiel Torschützenkönig wurde und zugleich in seinem Land Heldenstatus erlangte.



Auch das Halbfinale gegen die Sowjetunion konnten wir nicht live verfolgen. Wieder einmal hieß der Sieger Deutschland. Mit einem 2:1. Hätte man das Spiel auch verlieren können? Für mich damals keine Frage: Nein! Aber wie weiter oben schon erwähnt: Als Deutscher ist es relativ einfach, sich an diese kleinen und auch größeren Portionen des Glücks zu gewöhnen. Deutschland gewinnt eben. Ob sie besser sind oder waren oder nicht, spielt keine entscheidende Rolle. Ich nahm das hin, war begeistert. Deutschland im WM-Finale!


Zum Finale musste es jetzt eine Lösung geben. Das Spiel musste ich einfach Live verfolgen können. Und mein Vater fand sie. Wir waren mittlerweile auf Hamburg Ö, einer winzigen Insel in den schwedischen Schären. Es gab aber dort einen Zeltplatz und einen Verkaufsstand mit einem Lokal daran. Und einer der Anwohner schleppte zu dem Großereignis einen Fernseher an, der tatsächlich Empfang hatte! Nun standen wir etwa in 22. Reihe und starrten auf einen winzigen Monitor mit Schwarz-Weiß Bildern in damaliger Bildqualität. Nebenbei musste die Antenne immer wieder, wie damals üblich, justiert werden, wenn das Bild auszufallen drohte. Ein Hochgenuss also für jeden Fußballfan! Ich war schon wieder begeistert.


Die Deutschen gingen sogar in Führung. 1:0, durch Haller, 11. Minute, schätze ich. Doch dann kamen Peters und Hurst, und drehten das Spiel zugunsten der Engländer. 2:1. Die Euphorie war verflogen und durch Hoffen, Zittern und Bangen ersetzt worden. Die letzte Minute lief. Wolfgang Weber, Verteidiger, schaltete sich mit in den Angriff ein. Und tatsächlich kam er mit dem langen Bein am langen Pfosten an den Ball und drückte ihn über die Linie. Der Ausgleich in letzter Sekunde! War das schon wieder selbstverständlich? Wie wären die nachfolgenden Diskussionen über das legendäre Wembley-Tor verlaufen, wenn einfach nur dieser letzte Angriff abgewehrt worden wäre? England wäre Weltmeister gewesen. Und das verdient.


So kam es zur Verlängerung. Und zu dem noch berühmteren Schuss, der bis heute sowohl die englischen als auch die deutschen Gemüter, wenn nicht gar weltweite, bewegt. Hurst aus der Drehung, an die Unterlatte, auf, vor, hinter, die Torlinie und Wolfgang Weber köpft ihn ins Aus. Schiedsrichter Dienst befand sofort: Kein Tor. Aber der Linienrichter, zu dessen besonderen Ehren sogar ein Stadion in Aserbaidschan oder wo das ist benannt wurde, Tofik Bakhramov, winkte wild an der Seitenlinie. Schiedsrichter Dienst eilte zu ihm.  Der Verräter behauptete einfach, der Ball wäre drin gewesen. Der Schiedsrichter korrigierte seine Entscheidung und befand auf Tor. Das 3:2. Als in der letzten Minute der Verlängerung bereits ein Haufen von Zuschauern das Feld stürmten und so einfach England zum Weltmeister bestimmen wollten, lief wieder Hurst alleine durch und erzielte noch das 4.2. Sicher, inkorrekt, irregulär, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr, Den Ausgleich hätten die Deutschen nicht mehr geschafft. Oder?


Uwe Seeler verließ den Platz unter Tränen, musste gestützt und getröstet werden. Aber auch ich konnte mich nicht zurückhalten. Tja, ein Mal, dieses Mal, ging nicht ALLES zugunsten der Deutschen aus. Aber das hier, anstelle der Deutschen, auch Brasilien, Italien (die in der Vorrunde mit 0:1 gegen Nordkorea durch Pak Do Ik {alles Quizfragenwissen} ausschieden), Uruguay, die Sowjetunion, Spanien oder Portugal hätte stehen können, die für den Moment sicher gerne mit den Deutschen getauscht hätten, dass Deutschland das Ausgleichstor in der letzten Minute auch NICHT hätte erzielen können, dass, wenn das Tor zum 3:2 (wohl berechtigterweise) nicht gegeben worden wäre, der Sieger noch lange nicht Deutschland geheißen hätte, wie die Aussage „wir wurden verpfiffen“ vermuten lassen würde, all das wird hierzulande gerne vergessen. Ein tragischer Verlust durch eine Himmel schreiende Ungerechtigkeit. So das Empfinden eines jeden Deutschen. Ich selber brauchte auch beinahe Jahrzehnte, um das zu verstehen. Was? Dass irgendwo Glücksgene verteilt werden. Und diese nicht unbedingt ganz gerecht...



2)    Die Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexico


Möglicherweise war genau mit meinen damals 11 Jahren der Höhepunkt meiner Fußballleidenschaft erreicht. Ich selber spielte jeden Tag, draußen bei uns im Hundepark. Und wenn alle Kinder im Schwimmbad waren oder winters zu Hause hinter dem warmen Ofen saßen (sei es auch davor gewesen): Klein Pauli war im Park. Alleine hatte ich die Übung „wie oft kann ich den Ball hochhalten?“ im Dauerprogramm. Und immerhin bescherte mir das den inoffiziellen Titel des Jongliermeisters im Fußballverein. Dass ich später im Alter von 38 Jahren noch einen persönlichen Rekord, diesen auch noch auf der kleinen Badewiese in Kladow, zwischen zahlreichen  Handtüchern und kreischenden Kindern hindurch, auf unebenem Untergrund und dazu noch bergauf und bergab von 1463 Mal erzielte, muss ich hier einfach mal in einem beispiellosen  Akt der Selbstbeweihräucherung loswerden. Dazu hatte ich die komplette „Fußballliteratur“ aus der Stadtbücherei mindestens zwei Mal durch, die Sammelalben waren gefüllt, die Fußball-Woche wurde nicht nur nach dem Wochenende gelesen, sondern jahrgangsweise gesammelt und später immer wieder durchgelesen, man könnte auch sagen „studiert“. Der Spitzname „das wandelnde Fußballlexikon“ war ein beinahe zwangsläufig mir angedichtetes Nebenprodukt. 


So war ich also gespannt wie der berühmte Flitzebogen, als diese WM ins Haus stand. Es gab zwar zahlreiche positive Aspekte, jedoch auch einen besonderen Nachteil: Viele Spiele fanden aufgrund der Zeitverschiebung nachts statt. Glücklicherweise nicht die der Deutschen, das aber nur bis...


So hatte ich das große Glück, den ersten Auftritt der deutschen Mannschaft in den angenehm kühlen Abendstunden anschauen zu dürfen, während die deutschen Spieler (allerdings zugegebenermaßen auch deren Gegner) in der mexikanischen Mittagshitze schwitzen mussten. Das erste Spiel gegen Marokko begann. Und die Deutschen gerieten in Rückstand. 0:1. Dass sie das Spiel dann noch zum 2:1 drehten und nicht etwa wie Italien vier Jahre zuvor einfach mal so ein Spiel verlieren und ausscheiden, würde jeder Deutsche wie selbstverständlich mit „die Deutschen sind eine Turniermannschaft“ oder „immer, wenn’s drauf ankommt, sind sie da“ oder auch mit „Deutschland über alles“ aber jedenfalls niemals mit „da haben sie aber Glück gehabt“ quittieren. Es bleibt dabei: Selbst wenn sie vor dem Spiel 80% Favorit waren, dann haben sie immer noch für die verbleibenden 20%, die sie zum Sieger gemacht haben, Glück gehabt. Dass der Gegner zur Realisierung seiner Chancen 80% Glück gebraucht hätte, und damit wesentlich seltener seine Chance realisiert, verändert nichts. 20% Glück waren erforderlich. Nur glaube ich nicht einmal, dass sie auf 80% kamen. Als 11-jähriger  macht man sich aber noch nicht derartige Gedanken. Deutschland hat gewonnen, auch wenn man spürte, dass es knapp war.


Das nächste Spiel war ein Hochgenuss. Deutschland bekam es mit Bulgarien zu tun. Obwohl Reinhard Libuda ebenfalls nur das Plagiat des berühmten Stanley Matthews war, dem ehemaligen Rechtsaußen  von Manchester United, welcher nicht nur den Trick kreierte – nach innen antäuschen, außen vorbeigehen – und zur Perfektion umsetzte, und der  sogar ob seiner Verdienste  in England zum Ritter geschlagen wurde und sich fortan einen „Sir“ vor den Namen schreiben durfte,  so hatte Libuda doch zumindest für dieses Turnier den Spitznamen „Stan“ verdient. Und die gerade in diesen Jahren zahlreich aufgehängten Plakate mit der Aufschrift „An Gott kommt keiner vorbei“ wurden teilweise, und das nicht einmal ketzerisch, ergänzt durch ein „...außer Stan Libuda“. Er erzielte in dem Spiel zwei Tore und bereitete zwei weitere vor. Ein 5:2 ließ wenig Zweifel an der Berechtigung des Resultats aufkommen.


Das dritte Spiel war sehr entspannt, da es nur noch um den Gruppensieg ging. Aber Deutschland ging auch das Spiel gegen Peru mit dem erforderlichen Ernst an und siegte durch einen echten Hattrick von Gerd Müller in der ersten Halbzeit mit 3:1. Mitursache sicher, dass man doch lieber England als Brasilien haben wollte. Brasilien hatte nicht nur ohnehin die Anerkennung, nach den Titelgewinnen von 58 und 62 und dem unrühmlichen Ausscheiden 1966 durch die Verletzung von Pele auch noch den Vorteil, mit dem Klima besser zurechtzukommen.  Dass man sich auch gerne für 66 an den Engländern revanchieren wollte, gehört für mich ins Reich der Fabel. Hier ging es um Turnierchancen.


Das Viertelfinalspiel gegen England war dennoch an Brisanz nicht zu überbieten. Die Teams waren zwar auf einigen Positionen verändert, aber es waren auch noch zahlreiche Spieler des Finales von 66 dabei. Aber auch sonst: Das Spiel England gegen Deutschland ist und bleibt einer der großen Klassiker. Und dieses Spiel hatte besonderen Erinnerungswert.


England ging in Führung. 1:0. Nun gut, das lässt sich noch korrigieren, so auch meine Ansicht. Nach dem später erfolgten 2:0 überwog doch eindeutig die Skepsis. Ein jähes Ende aller Träume stand bevor. Nicht nur meiner, sondern der ganzen Nation. Welcher der aktiven Zuschauer würde aber den unwiderstehlichen Sololauf von Franz Beckenbauer über das halbe Feld mit dem Torabschluss zum 1:2 jemals vergessen können? Sicher einer der Momente, die ihn unsterblich machen. Dass dem englischen Trainer später von aller Welt attestiert wurde, die Auswechslung zumindest von Bobby Charlton zu früh, in der 65. Minute schätze ich, durchgeführt zu haben, ist für mich nicht schlüssig. Bobby Charlton war ein offensiver Spieler, der noch dazu schon ein gewisses Alter erreicht hatte und in der Hitze und Höhenluft von Mexiko durchaus entkräftet gewesen sein konnte.  Dazu könnte ein defensiverer Spieler die Chancen für das Halten des Ergebnisses erhöhen.


Nach diesem Anschlusstreffer hatte die deutsche Nation wieder Hoffnung. Die Spieler auf dem Platz taten alles dafür. Und in der 81. Minute war es soweit. Der weite Flankenball segelte in den Strafraum. Uwe Seeler, jener Uwe Seeler, der vor der WM schon aussortiert wurde, aus Altersgründen und deshalb, da er angeblich mit Gerd Müller nicht zusammenpassen würde, der aber fast alle Spiele komplett durchspielte mit grandiosen Leistungen, stand mit dem Rücken zum Tor. Und er erreichte den Ball nur mit dem Hinterkopf, und das auch noch bei recht beträchtlicher Torentfernung. Dieses Tor hat sich sicher noch mehr eingeprägt als das von Franz Beckenbauer: Der Ball senkte sich als Bogenlampe hinter dem völlig verdutzt hinterher schauenden englischen Torhüter ins Netz. Der Ausgleich und die Verlängerung waren die spielerische Folge. Der Aufschrei  der Begeisterung durchs ganze Land die akustische.


Dass Deutschland dank der Aufmerksamkeit von Gerd Müller noch das 3:2 nachlegte war dann beinahe schon eine jener Selbstverständlichkeiten, welche sich wie ein roter Faden durch die gesamte Historie der Turniere hindurch ziehen. Selbst wenn es speziell in diesem Spiel als Revanche aufzufassen war: Die deutschen Siege wurden zur Gewohnheit, und gerade jene gegen England.


Das Halbfinale gegen Italien hatte für mich aus völlig anderen Gründen traurigen Erinnerungswert: Es war nämlich so, dass ich das Spiel nur unter der Voraussetzung schauen durfte, dass ich vorher schlafen würde. Ich musste widerwillig zustimmen. Offensichtlich schlief ich tatsächlich irgendwann ein. Als ich dann mitten in der Nacht aufwachte, war irgendetwas komisch. Graute der Morgen bereits? Ich rannte ins Schlafzimmer meiner Eltern, rüttelte meinen Vater wach. Er murmelte im Halbschlaf etwas wie „4:3 für Italien nach Verlängerung“. Man kann sich letztendlich nicht vorstellen, was bei diesem Wortlaut durch meinen Kopf ging. Und es war weit mehr als der Kopf, der betroffen war. Es war ein regelrechter Schockzustand, in den ich geriet. Das konnte einfach nicht wahr sein. Wie sollte es möglich sein, dass ich das Spiel, was mich seit Tagen schon so sehr beschäftigte, worauf ich mich mehr als auf Weihnachten gefreut hatte, verschlafen habe? Noch dazu: Wie sollte es möglich sein, dass Deutschland ausschied? Aber auch: Sollte es ein derart dramatisches Spiel gewesen sein, was ich verpasst hatte?


Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich redete mir die ganze Zeit ein, dass ich mich verhört haben musste. Ich wollte mir unbedingt einreden, dass mein Vater im Delirium ein paar Worte gemurmelt hat, er hatte vielleicht selber geträumt. 


Ich hatte am frühen Morgen einen Arzttermin, da ich eine üble Verletzung am Finger hatte, die ich mir in einem Akt der Selbstverstümmelung zugefügt hatte, als ich unser Luftgewehr unfachgemäß bediente – im Beisein meines größeren Bruders, der aber das Unglück nicht verhindern konnte. 

Meine Eltern gingen beide zur Arbeit an jenem dem Halbfinalspiel folgenden Morgen. Ich ließ die Schule ausfallen, war aber in einem merkwürdigen Trancezustand. Ich schaute das Spiel ab 9 Uhr in der Wiederholung. Ich schaute auch auf keine Zeitung und hörte keinen Bericht, kein Radio, wollte auch beim Arzt schon mit Niemandem reden, in der Sorge, derjenige könnte das Ergebnis ausplaudern. Ich bildete mir einfach ein, dass ich nicht wüsste, wie das Spiel war. Nur gelang es mir nicht. Immer wieder dachte ich über die Worte meines Vaters nach.


Die Wiederholung lief. Ob es nun daran lag, dass ich eine ziemlich gesicherte Vorahnung hatte, was passieren würde, oder ob es an den Spielszenen lag: Das Spiel erschien mir total langweilig. Italien hatte früh (7.) das 1:0 erzielt und Deutschland kam kaum zu Torchancen. Es änderte zwar nicht all zu viel, aber je länger die Spielzeit dauerte, umso sicherer wurde ich, dass mein Vater wirklich nur Unsinn gelallt hatte. Das konnte nie und nimmer 4:3 ausgehen. Obwohl es mir auch keine besondere Befriedigung verschafft hätte, so war ich doch in der 90. Minute allmählich erleichtert, dass das, was mich die ganze Zeit beschäftigt hatte, das, was ich zu hören geglaubt hatte, einfach nicht stimmen konnte. Deutschland war raus, keine Frage. Und Spannung habe ich auch nicht empfunden. Alles war dumpf. Aber eine Gewissheit hatte ich doch... da, was ist das denn? Schnellinger, der war doch noch nie vorne, das lange Bein, die Grätsche, der Ball war drin. 1:1, 90.!


Verlängerung. Meine Empfindungen besserten sich trotzdem nicht merklich. Immerhin konnte es ja jetzt doch noch stimmen. Aber es konnte doch nicht...äh, noch 5 Tore, in einer so kurzen Verlängerung, nach so einem schwachen Spiel? Das ging doch nicht. Dann ging es Schlag auf Schlag. 2:1, Gerd Müller, mit einem Kullerball, wo man nicht einmal sicher sein kann, dass er den Ball zuletzt oder überhaupt berührt hatte. Das Tor zählte, und zwar für ihn. Sollte etwa...? Nein, das 2:2, das 3:2 für Italien. Allmählich wurde es zur Gewissheit... Müller, noch einmal Müller, ja, das 3:3. Sollte ich mich jetzt freuen oder was? Nein, ich wusste doch, was passieren würde: Riva oder Rivera oder wie sie alle hießen, Sepp Maier am Boden, warf sich verzweifelt auf den Boden, der Ball war drin, das 3:4, ja, es stimmte alles, es war nur deprimierend, zu keinem Zeitpunkt konnte ich eine Form von dieser unsäglichen Spannung empfinden, die dieses „Spiel des Jahrhunderts“ verdient gehabt hätte.


Aber halt, auf einmal erwachte der Philosoph in mir. Ich hing dieser Theorie lange Zeit aber nur in meinen Gedanken nach. Dennoch war es, so darf ich heute sagen, die Geburtsstunde meiner persönlichen „Chaostheorie“. Ich überlegte allen Ernstes, ob eventuell, wenn ich das Spiel mit angeschaut hätte, das Ergebnis nicht ein völlig anderes hätte gewesen sein können? Es ist ja nicht nur so, dass man sich dadurch beruhigen kann, dass man etwas Großartiges verpasst hat (was in meinen jungen Jahren definitiv der Fall war), sondern es ist eine sehr ernst gemeinte Überlegung, die in allen Lebenslagen helfen kann. Man wüsste niemals, was passieren würde oder was passiert wäre, wenn man nur einen einzigen Schritt im Leben anders getan hätte. 

Eine Folge: Man muss niemals etwas bereuen. Denn so lange man da ist und lebt kann man für dieses Leben dankbar sein und kann den nächsten Schritt so ausführen, wie man es gerne täte, die Vorerfahrungen nutzend aus dem gesamten Leben. Wenn man irgendwo etwas anders gemacht hätte, wäre noch nicht einmal gesichert, dass man in diesem Moment überhaupt leben würde.


Die kindlichen Gedanken, auf welche Art der Einfluss übertragen worden wäre, kann ich hier gerne auch schildern: Ich dachte, dass es doch möglich gewesen wäre, dass mich jemand in der Nachbarwohnung am Fenster stehen sieht. Deshalb das gerade geführte Telefonat auch nur eine einzige Sekunde länger dauern würde. Deshalb der am anderen Ende der Leitung etwas anderes tun würde und schon nähme das Chaos seinen Lauf. Hier etwas anders, dort etwas anders, dann pflanzt es sich fort. Also im Prinzip, so meine heutige Sicht, gab es „das Spiel des Jahrhunderts“ nur durch mein (passives) Eingreifen.


Deutschland war raus. Sie gewannen das Spiel um Platz 3 mit 1:0 gegen Uruguay. Brasilien wurde verdienter Weltmeister mit 4:1 gegen Italien. Ein Hochgenuss, noch einmal Pele auf seinem Spitzenniveau spielen sehen zu dürfen.


Dennoch darf ich im Zusammenhang mit dem trotz „nur Platz 3“ erfolgreichen Turniers mal ein paar Fragen stellen: Eine Vorrundengruppe mit Bulgarien, Marokko und Peru kann unmöglich überdurchschnittlich schwer sein. Sie war „leicht“. Dann das unglaubliche Spiel gegen England. Sicher empfand man es damals noch als Revanche für 66 und damals hatte England ja sooo glücklich gewonnen. Trotzdem kann es doch nicht sicher sein, dass man ein solches Spiel gewinnt? Man benötigt immer etwas Glück, und das hatte Deutschland in diesem Spiel. Im Spiel gegen Italien nicht, das stimmt schon. Aber der Ausgleich in der letzten Minute – bemerkenswert übrigens an den beiden Last-Minute-Treffern der Deutschen 66 und 70 noch, dass sie nicht nur beide von Abwehrspielern erzielt wurden, sondern dass das die einzigen beiden Länderspieltore dieser Spieler waren.


Und abschließend noch die Frage. Selbst wenn Deutschland in diesen Jahren sicher zu den stärksten Nationen der Welt gehörte: Ist ein dritter Platz unter oder über den Erwartungen? Würde man also vor dem Turnier einen dritten Platz im Turnier der besten Mannschaften unterschreiben? Für mich ist die Antwort klar: Ja. Man müsste.

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